ZEIT ONLINE: Heißt das, es braucht keine weiteren Zinserhöhungen?

Lane: Nach unserem Basisszenario sind weitere Zinserhöhungen erforderlich, um sicherzustellen, dass die Inflation auf zwei Prozent sinkt. Das ist eindeutig unsere Diagnose. Wenn der finanzielle Stress, den wir sehen, zwar nicht gleich null ist, aber sich als ziemlich begrenzt erweist, müssen die Zinssätze noch weiter nach oben gehen. Wenn der finanzielle Stress, über den wir gesprochen haben, jedoch stärker wird, dann müssen wir sehen, was angemessen ist.

ZEIT ONLINE: Es gibt also einen Zielkonflikt zwischen Inflationsbekämpfung und Stabilisierung der Banken?

Lane: Nein. Wenn dieser finanzielle Stress die Wirtschaft schwächt, würde das automatisch den Inflationsdruck verringern.

ZEIT ONLINE: Sie haben steigende Löhne erwähnt. Sehen Sie Anzeichen für eine Lohn-Preis-Spirale, die die Inflation anheizen könnte?

Lane: Bislang waren steigende Löhne keine wichtige Quelle für Inflation. Im vergangenen Jahr ließ sich ein Großteil der Preissteigerungen auf gestiegene Gewinne und steigende Energiekosten zurückführen. In diesem Jahr glauben wir, dass es einen Wechsel gibt. Wir erwarten, dass die Löhne schneller steigen, da die Gewerkschaften auf die hohe Inflation des letzten Jahres reagieren. Aber es ist sehr wichtig, dass alle – Arbeitnehmer und Unternehmen – erkennen, dass die Inflation im nächsten Jahr und im Jahr 2025 viel näher bei zwei Prozent liegen wird. Die Lohn-Preis-Spirale ist ein Szenario, das in den Siebzigerjahren eintrat, als sich die Erwartung verfestigte, die Inflation werde jedes Jahr hoch sein. Dies ist nicht der Fall. Die Lohnerhöhungen sind zwar höher als normal, aber im Großen und Ganzen erscheinen sie recht fair. Aber wir müssen das im Auge behalten.

ZEIT ONLINE: In Deutschland fordern die Gewerkschaften eine Lohnerhöhung von 10,5 Prozent für den öffentlichen Dienst. Könnte das die Inflation verstärken?

Lane: Ich werde mich nicht zu einzelnen Verhandlungen äußern. Was ich sagen möchte, ist: Manchmal lese ich Schlagzeilen über sehr hohe Lohnerhöhungen. Aber wenn man sich die Details ansieht, gehört dazu oft eine Einmalzahlung, die die Arbeitskosten nicht dauerhaft erhöht. Oder die Lohnerhöhung wird über 18 oder 24 Monate verteilt. Der tatsächliche Anstieg pro Jahr ist also geringer.

ZEIT ONLINE: Ab welchem Prozentsatz wird eine Lohnerhöhung in Bezug auf die Inflation gefährlich?

Lane: Lassen Sie mich unsere Prognose zitieren. Denken Sie daran, dass die Inflation nach dieser Prognose bis Ende dieses Jahres auf 2,8 Prozent zurückgeht und sich dann weiter in Richtung unseres Ziels von zwei Prozent verbessert. Wir unterstellen dabei ein Lohnwachstum von 5,3 Prozent in diesem Jahr und 4,4 Prozent im nächsten Jahr. Wir beobachten die Lohnabschlüsse Woche für Woche sehr genau, und wenn wir sehen, dass sie darüber hinausgehen, dann würden wir anfangen, uns mehr Sorgen zu machen.

ZEIT ONLINE: EZB-Präsidentin Christine Lagarde sagte, in dieser Zeit hoher Inflation müsse es eine faire Lastenverteilung zwischen Arbeitnehmern und Unternehmen geben. Was ist damit gemeint?

Lane: Der spektakuläre Anstieg der Energieimportpreise war der Auslöser für die hohe Inflation. Wir zahlen jetzt mehr für die Einfuhr von Öl und Gas aus anderen Ländern. Das bedeutet, dass in unserer Wirtschaft weniger Einkommen zu verteilen ist. Es gibt einen kollektiven Verlust. Und die Frage ist: Wie stark sollen die Einkommen der Arbeitnehmer sinken und wie stark die Gewinne der Unternehmen? Der Verlust muss irgendwie aufgefangen werden, wenn wir wollen, dass die EU wettbewerbsfähig und im globalen Geschäft erfolgreich bleibt.

ZEIT ONLINE: Ist die Lastenteilung derzeit fair?

Lane: Nun, die Gewinne haben sich im vergangenen Jahr aus mehreren Gründen besser entwickelt als die Löhne. Ein Grund ist zum Beispiel, dass Lohnverhandlungen Zeit brauchen. In diesem Jahr erwarten wir, dass die Löhne stärker steigen werden. Und wir glauben, dass die Unternehmen weniger Spielraum haben werden, ihre Gewinne durch höhere Preise zu steigern. Dafür gibt es viele Gründe: Die Nachfrage dürfte sich abkühlen, und die Lieferengpässe sollten sich auflösen. Die Lastenverteilung ändert sich also mit der Zeit.

ZEIT ONLINE: Im Großen und Ganzen scheint Ihr Ausblick aber recht optimistisch zu sein: Die Inflation geht schnell zurück, während die Wirtschaft wächst. Heißt das, uns gelingt die sogenannte soft landing, eine weiche Landung?

Lane: Es ist möglich. Manche mögen einwenden, dass es eine Rezession braucht, um die Inflation zu senken. Aber wir befinden uns in einer sehr ungewöhnlichen Situation. Wir kommen gerade aus einer Pandemie und aus einer sehr schweren Energiekrise heraus. Wir haben durch die Pandemie so viel Wachstumsdynamik verloren, dass es möglich ist, dass sich die Erholung von der Pandemie fortsetzt und die Inflation gleichzeitig zurückgeht.

Eine kürzere Version dieses Interviews erschien in der ZEIT 14/2023